Der mystische Tod. Über Simone Weil und das Königreich der Schmerzen

Dass das ganze Gewebe unseres Lebens unvermittelt zerreissen kann, ist etwas, was man nicht nur nicht antizipieren will- es ist dem Menschen einfach nicht ohne weiteres möglich, die Facetten des Abgrunds, der immer unter seinen Füßen ruht, ansatzweise zu imaginieren. Ein kleines Unwohlsein im Alltag kann, was am Morgen noch eine offene Zukunft war, durch ein Klicken der Apparaturen, die uns durchleuchten, zu einer Biografie machen, die einen Anfang und ein deutlich auszumachendes Ende hat.

In Elisabeth Strouts Roman „The Burgess Boys“ (1)- einer Familiengeschichte, in der der hoch sensible Sohn eine unerklärliche Dummheit begeht (er wirft einen Schweine- Kopf in die Moschee somalischer Flüchtlinge, ohne tatsächlich Rassist zu sein), und damit einen kaum aufzuhaltenden, auch juristischen Prozess herauf beschwört und Familien- Geheimnisse ans Tageslicht befördert -, ist der Schmerz etwas, was die Mutter unvermittelt in einen privaten (aber nicht sehr exklusiven) Club befördert, in dem sie von nun an die Intimität des Schmerzes erleben muss: „And she learned—freshly, scorchingly—of the privacy of sorrow. It was as though she had been escorted through a door into some large and private club that she had not even known existed.

So ist es mit den Diagnosen, den Enthüllungen, oder, wie der Polizeichef im Verlauf des sich entwickelnden Dramas auch in Bezug auf sein eigenes, privates Glück räsoniert, das mit einem einzigen Klopfen an der Haustür unvermittelt enden kann: „The luck could end tomorrow. He had watched people’s luck end with one phone call, one knock on their door.

Das Zerreißen der scheinbar sicheren Verankerung in unsere Existenz ist eine existentielle Notwendigkeit- wir alle wissen darum, dass der Tag für uns kommen wird. Jemand wird vor uns stehen und uns eine Nachricht hinterlassen, die uns zerstören wird; der Tod der eigenen physischen Existenz oder vielleicht der einer geliebten Person, das Ende der Gewissheit und der Beginn eines unauflöslichen Schmerzes sind unausweichlich. Das Wissen darum und der fortdauernde Versuch, dieses prekäre, geliehene, vorübergehende naive Leben aufrecht zu erhalten, die fortdauernde Leugnung raubt einen erheblichen Teil unserer Energien. In ihren hinterlassenen, teilweise unmittelbar vor ihrem Tod geschriebenen Fragmenten, Aufsätzen und Notizen (2) geht die Philosophin und Mystikerin Simone Weil auf diese existentiellen menschlichen Bedingungen ein- auch, ganz grundsätzlich, auf das Illusionäre unserer permanenten Deutung der Realität, das uns vorgaukelt, es gäbe ein festes, unerschütterliches „Äußeres“ der Welt: „Thus at each instant of our life we are gripped from the outside, as it were, by meanings that we ourselves read in appearances. That is why we can argue endlessly about the reality of the external world, since what we call the world are the meanings that we read; they are not real. But they seize us as if they were external; that is real.“ (3)

Die nach und nach aufgebaute individuelle Deutung unserer Existenz umgrenzt unser Verständnis und determiniert unsere Identität- sie schließt andere Deutungen mehr oder weniger aus: „Each reading, when it is current, appears as the only real, only possible way to look at things; the other one seems purely imaginary. These are, of course, extreme examples, but all of our life is made from the same cloth; meanings impose themselves on us successively, and each of them, when it appears and enters into us through the senses, reduces all opposing ideas to the status of phantoms.“ (3) Die naive Bannung in den Kreis unserer Welt- Deutung kann nur- so Weil- überwunden werden durch einen todes- ähnlichen Akt, eine Initiation ins Königreich des Verlustes und des Schmerzes: „The loss of something or someone to which we are attached is immediately sensed by us by a weakening that corresponds to a loss of energy. For it is necessary to lose all vital energy that is given to us by the totality of things and beings to which we are attached. It is indeed therefore a death.“ (3)

Daher ist dieser Verlust der Naivität, der Eintritt ins Königreich des Schmerzes in der Geschichte der Mysterien immer mit dem Tod verglichen worden: „Detachment is a renunciation of all possible ends without exception, a renunciation that puts a void in the place of the future just as the imminent approach of death does. This is why in the ancient mysteries, in Platonism, in the Sanskrit scriptures, in the Christian religion, and very probably everywhere and at every time, detachment has always been compared to death, and the initiation into wisdom has been regarded as a sort of passage towards death.“ (3)- wir lösen uns von der naiven Deutung ab, verlieren den Boden unter den Füßen, erleben das Loch anstelle dessen, was wir uns als Zukunft vorgestellt hatten.

Simone Weil betrachtet die determinierenden, aber auch moralischen Implikationen aber auch vom Begriff des „Charakters“ aus, der sich durch die Deutungsmuster, Erklärungsmodelle, die Art des Umgangs mit dem Schmerz, aber auch durch den Wunsch nach innerer Veränderung heraus bildet: „Our character appears to us as a limit by which we do not want to be imprisoned. We like to dream that someday we will be able to escape ourselves in one or more directions. We are happy to know that we can model our character, achieve it, go beyond it. But our character also appears to us as a support that we want to believe is unshakable. We want to believe that we are capable of never doing, saying, thinking certain things. Sometimes we are wrong.“ (3) Die illusionäre Welt- Deutung kann sich, wenn extreme Situationen auftreten, eben auch auf die Erwartung an den eigenen Charakter beziehen: Das persönliche, auch moralische Scheitern scheint so unvorstellbar wie das Ende der physischen Existenz. Aber es kommt vor. Von daher kommt Simone Weil auf die Frage, was denn überhaupt heilig zu nennen sei im Individuum. Das sei- so führt sie in einer weiteren Betrachtung aus- das im Individuellen aufzufindende Nicht- Individuelle: „What is sacred in a human being is that which is, far from the personal, the impersonal. Everything that is impersonal in a human being is sacred, and that alone.“ Dieses Un- Persönliche aber sei nur aufzufinden in absoluter Einsamkeit, ja in einer nur im eigenen Inneren aufzufindenden moralischen Integrität: „Passage into the impersonal only comes about by attention of rare quality, and is only possible in solitude. Not only actual solitude, but moral solitude.“ (3)

An dieser Stelle kommen wir zurück auf die Frage, wie der Kern menschlicher Integrität, das wirklich auch moralisch Tragende in uns, das nicht gegeben und nicht aus dem Persönlichen heraus definierbar ist, auffindbar sein kann. Simone Weil schreibt: Aus dem existentiellen Verlust heraus, in dem es möglich wird, der Erfahrung des absoluten Nichts ins Auge zu sehen, mit der Kraft der ganzen Seele zu denken und den Tod der Seele, den Verlust von allem, was wir sind, haben und zu besitzen glauben, zu akzeptieren: „Human thought cannot understand the reality of affliction. If someone were to recognize the reality of affliction, he would have to say: “The play of circumstances, over which I have no control, can snatch anything from me anytime, including everything that belongs to me and that I consider as being me. There is nothing to me that I cannot lose. An accident can at any time wipe out what I am and can indifferently put in its place any vile and contemptible thing.” Thinking that with the whole soul is to experience nothingness. It is the extreme and total state of humiliation that is also the condition for the passage into the truth. It is a death of the soul. This is why the sight of naked affliction causes in the soul the same jerking away that the nearness of death causes in the flesh.“ (3)

Der mystische Tod ist für Simone Weil kein erhabenes Erlebnis für romantische Ausnahmemomente, sondern die konkrete, todes- gleiche Begegnung mit dem Schmerz- es geht nicht um ein weiteres Umschiffen der Leere, sondern um „real life“. Sie selbst hat nicht nur den mystischen Tod gekannt und über ihre Christus- Erfahrungen geschrieben, sondern lebenslang unter extremen Migräne- Schmerzen gelitten, die sie aber nie abhielten, mitten in die konkreten Probleme hinein zu marschieren. So hat sie, während sie an ihren letzten Texten schrieb, versucht, nach Spanien in den Bürgerkrieg zu ziehen, um sich im Kampf gegen das Franco- Regime zu engagieren, wurde aber vor Ort wegen ihrer Sehschwäche abgewiesen. In ihrer kommunistischen Zeit hatte sie für „La Révolution prolétarienne“ geschrieben.

Aber zugleich - so zeigt eine noch recht aktuelle Betrachtung (2012) von Robert Chevanier (4) zur Biografie Simone Weils- war der Schmerz für sie eine wesentliche existentielle Perspektive- das, was für sie „real life“ ausmachte. Einerseits verstand sie darunter Solidarität mit den Fabrikarbeitern - sie unterbrach 1934 ihre Universitäts- Karriere, um mit am Fliessband zu arbeiten, verabschiedete sich angesichts des Hitler- Regimes vom Pazifismus- erlebte aber andererseits inmitten all dieser Katastrophen (und ihrer anhaltenden Migräne) etwas, was ihrer Existenz eine andere innere Dimension gab; eine Christus- Erfahrung in Assisi:

In 1937, at Assisi, in the little Romanesque chapel of Santa Maria degli Angeli where St Francis had prayed, she recognized that something stronger than herself “obliged her, for the first time in her life, to drop to her knees.” This was her second contact, under the sign of beauty and purity. At Solesmes, during Holy Week in 1938, while she was suffering from intensely painful headaches, she assisted at the divine office sung in Gregorian chant. She said that in the course of these religious services “the thought of the passion of Christ entered into me once and for all” (Attente de Dieu, 43)“ - bis hin zu dem Punkt, an dem sie wenig später erlebt: „Christ himself came down and took possession of me” (dito, zitiert nach Robert Chevanier).

Zweifellos hat sie, während es für ihre Familie und sie nötig wurde, als Juden Frankreich zu verlassen, weiter an der Frage des „wirklichen“ Lebens, das im Zentrum des Schmerzes die reine Schönheit, die Wahrheit, das nicht- Persönliche findet, gearbeitet- auf eine Art und Weise, die vollkommen quer zur heutigen Ideologie der Selbstverwirklichung und Wellness- Kultur steht. Das Annehmen des Schmerzes, des Aussichtslosen, des inneren Abgrunds, war für Simone Weil gerade der Schlüssel, um ins „reale Land“ zu gelangen, in dem sie "frei atmen" konnte: „..keys by which one enters into the pure land, the land where one can breathe freely, the land of the real..” Was nach reiner Mystik klingt, war - neben ihrem enormen Schreibpensum- der Hintergrund für ihre Arbeit in der Resistance, hauptsächlich in Zusammenarbeit mit Dominikanern aus Marseille. Es ging konkret um subversive Aufklärung gegen die Nazis und um falsche Pässe für Flüchtlinge.

Bei Simone Weil lag in der größten äußeren Aktivität das mystische Element gleichzeitig darin, in einer der dunkelsten Zeiten der Menschheitsgeschichte das Leiden, das „über die Welt verteilt“ ist, vollkommen anzunehmen; sie fühlte sich aufgerufen, selbst „eine große Portion dieser Gefahren und Leiden“ durch zu machen: „The suffering spread over the surface of this world obsesses me (..) and I cannot restore them or free myself from this obsession unless I myself share a large portion of that danger and suffering” (Ecrits de Londres, 199; SL, 156).

Ihr Tod folgte 1943: „On April 15, 1943, a friend went to her home and found her stretched out on the floor unable to move. Sent to a hospital in London, then to a sanatorium in Ashford, Simone Weil died on August 24, 1943, eleven days after she was admitted there.“ (4)

Und dann, was man immer wieder von Simone Weil lesen kann, ohne je daran zu ermüden, vielleicht erlebt und gesprochen aus der Essenz ihres Schmerzes, der ja bis zur Entkörperlichung führen kann, wenn der Migräne- Anfall auf den Höhepunkt zusteuert, ihre berühmte Christus- Begegnung: 

Er trat in mein Zimmer und sprach: (...) Es war nicht mehr Winter. Es war noch nicht Frühling. Die Zweige der Bäume waren nackt, ohne Knospen, in einer kalten, sonnigen Luft. 
Das Licht stieg auf, strahlte, wurde schwächer, dann kamen Mond und Sterne zum Fenster herein. Und wieder stieg das Morgenrot auf. 
Manchmal schwieg er, nahm aus einem Wandschrank ein Brot, und wir teilten es miteinander. Dieses Brot hatte wahrhaftig den Geschmack des Brotes. Ich habe diesen Geschmack nie wiedergefunden. 

Er schenkte mir und sich Wein ein, der den Geschmack der Sonne und der Erde hatte, auf der diese Stadt erbaut war. 
Manchmal streckten wir uns auf dem Fußboden der Dachkammer aus, und die Süße des Schlummers sank auf mich herab. Dann erwachte ich, und ich trank das Licht der Sonne. 
Er hatte mir versprochen, mich zu belehren, aber er lehrte mich nichts. Wir sprachen von allem und jedem, was uns gerade einfiel, wie alte Freunde tun. 
Eines Tages sagte er zu mir: "Jetzt geh". Ich fiel auf die Knie, ich schlang meine Arme um seine Beine, ich flehte ihn an, mich nicht zu verjagen. Aber er stieß mich auf die Treppe hinaus. Ich stieg die Treppen hinunter, ohne zu wissen, wie mir geschah, das Herz wie in Stücken. Ich ging in den Straßen. 

Dann bemerkte ich, daß ich gar nicht wußte, wo dieses Haus lag. Ich habe niemals versucht, es wiederzufinden. Ich begriff, daß er mich aus Versehen aufgesucht hatte. Meine Stelle ist nicht in jener Dachkammer. Sie ist irgendwo, in dem Kerker eines Gefängnisses, in einem jener bürgerlichen Salons voller Nippes und rotem Plüsch, in dem Wartesaal eines Bahnhofs. 
Irgendwo, aber nicht in jener Dachkammer.Manchmal kann ich nicht anders: ängstlich und mit schlechtem Gewissen wiederhole ich mir ein wenig von dem, was er zu mir gesagt hat. Wie soll ich wissen, ob ich mich dessen genau erinnere ? Er ist nicht da, es mir zu sagen. 

Ich weiß wohl, daß er mich nicht liebt. Wie könnte er mich lieben? Und doch, ganz innen ist etwas, ein Punkt meiner selbst, der es nicht lassen kann, mit Furcht und Zittern zu denken, daß er mich vielleicht, trotz allem, liebt." 


Teilweise Repost aus dem Archiv mit leichten Änderungen
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1 Elisabeth Strout, The Burgess Boys
2 Simone Weil, Late Philosophical Writings, 2015
3 dito, ohne Seitenangabe bei Kindle- Ausgabe. Die Zitate entstammen unterschiedlichen Texten in der Sammlung
4 Robert Chenavier, „Simone Weil, Attention to the Real“, Link: https://www3.nd.edu/~undpress/excerpts/P01544-ex.pdf