Feuergeister, Manichäer und Computer- Bots. Über die Akademie von Gondischapur

Der Tempel der Feuergeister
Selten war die Quellenlage so dünn- aber doch sprechend genug: Man denke sich ein gemeinsames spirituelles Studium von Ärzten und Theologen, die Ausprägung einer tätigen Praxis, in dem Studium und Sakrament im Sinne einer „innenweltlichen Askese“ zusammen fliessen, um in einem Opus caritatis „die tätige Seele des philosophierenden Arztes, die tätige Seele des opfernden Priesters“ (1) zu verwirklichen- die Begründung der Medizin aus religiösen Impulsen heraus, denen islamische Theologen und Forscher, christliche Nestorianer, Aristoteliker, Manichäer und - als sassanidische Staatsreligion im Hintergrund- Anhänger der tausend Jahre währenden Feuer- Verehrung der Zoroastrismus angehörten: Das ist Gondischapur.

Das spätantike Sassaniden- Reich entstand im 3. Jahrhundert und entwickelte sich aus dem heute iranisch- irakischen Grenzgebiet heraus vor allem unter Chosrau II zu einem persischen Weltreich, das die Römer vom Osten her überwältigte. Es gab aber auch - was die philosophierenden Herrscher, aber auch die Ärzte von Gondischapur betrifft- ständige Kontakte z.B. mit Indien und dem italienischen Kloster Monte Cassino. Ursprünglich entstanden ist die Akademie unter Schapur I (241- 272) nach der Gefangennahme des römischen Kaisers Valerian, der mit christlichen Priestern nach Gondischapur verschleppt wurde (und in Gondischapur starb) - damals ein Bischofssitz namens Beth Labat, heute im iranischen Ahvaz (Khzuestan) gelegen. Schapur baute die Stadt für seine prominenten Gefangenen aus und installierte ein aufwändiges Bewässerungssystem.

Zu dieser Zeit trat dort auch der 24jährige Mani auf, ein Perser, der eine Weltreligion aus der moralisch empfundenen Natur - vor allem Sonne und Tierkreis- heraus begründen wollte. Sein Dualismus zwischen Licht - und Schattenreich war letztlich ein Ableger der spirituellen „nous“- Geist- Begrifflichkeit von Aristoteles, die auch bei den christlichen Nestorianern eine zentrale Rolle spielte. Mani ist im Februar 277 auch in Gondischapur hingerichtet worden, nachdem er mit den zoroastrischen Priestern in Konflikt geraten war. Seine Haut soll abgezogen und an der Stadtmauer von Gondischapur als Abschreckung ausgestopft aufgehängt worden sein. Im Kölner Mani- Kodex liegt eine frühe (4. Jahrhundert) Biografie Manis auf Pergament vor, ein winziges Buch mit 192 Seiten, das 1969 von der Universität Köln gekauft worden ist.

Manis gescheiterter Versuch, die uralte, aber im Sassanidenreich beherrschende und bis ins 10. Jahrhundert in der Region nachweisbare (und bis heute als Parsentum bestehende) zoroastrische Religion zu reformieren, zeigt schon die Vielfältigkeit, aber auch Dynamik spiritueller Bewegungen um Gondischapur herum. Die Toleranz der sassanidischen Herrscher wurde nicht immer von den Priestern geteilt. Trotz der dualistischen Weltsicht und der Mehrheit der Götter, die Ahura Mazda begleiten (z.B. Anahita), wurde der sonnengleiche Schöpfergott doch monotheistisch aufgefasst - das Schattenelement Ahriman regierte im Totenreich. Zur Zeit der Sassaniden lebte sich dieser auf Zarathustra (2) zurück gehende Kult als zurvanistische Variante in Feuertempeln aus, ja als ein das Land bis in jeden Haushalt hinein beherrschendes System heiligen Feuers:

Die häuslichen Feuer in der Küche durften dreimal benützt werden, dann mussten sie durch die Berührung mit einem höheren Feuer gereinigt werden. "Es wurde zu diesem Zweck zum nächstgelegenen Adhuranfeuer getragen, das jeweils zehn Hausfeuern zugeteilt war und wohl von zwei (Priestern) versehen wurde. Solch ein Adhuranfeuer musste überall dort sein, wo mindestens zehn Hausfeuer zusammen angelegt waren. Offenbar war jeder Provinz sodann übergeordnet ein Bahramfeuer zugeteilt. Die letzte Instanz dieses Reinigungsweges der peripheren Feuerdienste waren die altehrwürdigen Reichsfeuer Adhur Farnbag, Adhur Gusnasp und Adhur Burzin Mihr- alle drei auf Bergen gelegen und dadurch auf den uralten Brauch der Hoch- Kultstätten verweisend. Das bedeutendste dieser Feuer war zweifellos Adhur Gusnasp. (..) Lokalisiert wird es von den Historikern allgemein nach Siz in Aserbaidschan*, dorthin, wo heute noch die „Takht-i Sulaiman“ genannten Ruinen stehen. Schon der erste Sassanide sendet Geschenke an die Stätte.“ (3) Die Kulte der Priester an diesen heiligen Feuer- Altären müssen beeindruckend gewesen sein. Nichts durfte das Feuer verunreinigen, nicht einmal der Atem der Priester, die selbst das Holz nicht mit bloßen Händen berühren durften. Die Gesänge gingen tief bis in vorchristliche Zeit (ca 1800 bC)  zurück. In den mehrmals am Tag stattfindenden Zeremonien am Feuer, das in Adhur Gusnasp 700 Jahre ununterbrochen brannte, wurden Opfer gebracht und Wahrsagungen gemacht. Erst im 11. Jahrhundert verlöschten die letzten dieser Kultstätten.

Die Anthroposophin Elisabeth Leu schreibt schwärmerisch von diesen Feuerkulten: „In die heilige Seequelle warf Zarathustra, als er sein Wirken auf Erden begann, ein reine Perle. Durch die Berührung der Perle mit dem Wasser flammte ein Feuer auf. Durch Jahrhunderte brannte das „himmlische Feuer“ an jener Stätte, sorgsam von Priestern und Königen gehütet. Eine feurige Flamme, das Zeichen des Geistes. Perle, persisch Gor oder Gohar, bedeutet auch Grundstoff, Substanz. Das manichäische Symbol für Mitleid war eine Perle, die auch als der oberste Lichtstein in der Lichtburg schimmerte. Das Zeichen der Manichäer war ein Kreuz in einem Kreis von zwölf Perlen.“ (4) Sie vergisst dabei zu erwähnen, dass Mani von den zoroastrischen Priestern in Gondischapur hingerichtet worden ist - ein damals, nach nahezu 2000 Jahren bestehender Existenz, schon überaus konservativer Kult, der auch mit den christlichen Nestorianern rang und ab dem 7. Jahrhundert mit dem expandierenden Islam.

Ein weiterer, wesentlicher Einfluss auf die Region und insbesondere auf die Akademie waren die Nestorianer. Nestorius, 381 geboren, war ebenfalls Perser und entstammte der syrischen Euphrat- Region. Er lebte im Kloster des heiligen Eupropius bei Antiochien. Nach langwierigen theologischen Differenzen wurde er in eine Strafkolonie nach Oberägypten geschickt, obwohl er eine ganze Reihe von Anhängern hatte. Große Teile seiner Lehre sind geheim geblieben- es darf aber davon ausgegangen werden, dass seine Auffassung vom Menschen, aber auch von Christus der Logos- Lehre des Aristoteles folgte. Dabei wird der schaffende Geist - nous poetikos - zwar als in einem sterblichen Gefüge verstanden, lebt darin selbst aber als aphthartos- als unsterblich und unverletzlich, unvermischt mit dem körperlich- seelischen Bild, in dem er erscheint; er ist voller schaffender, formender Energie und tritt durch eine Tür in die physische Existenz ein. Daraus abgeleitet war das Christus- Verständnis der Nestorianer so, dass der schaffende Christus- Geist ebenfalls unwandelbar und unveränderlich aufzufassen ist - auch er tritt ein in das Leib- Seele- Gefüge des Jesus; er ist daher auch nicht zu verstehen als von Maria als Gott geboren. Die Vorwürfe an die Nestorianer bestanden also darin, die gottmenschliche Einheit in Christus zu leugnen. Tatsächlich schreibt Nestor: „Sie - Maria- ist die Mutter eines Knäbleins, non deitatis, nicht einer Gottheit!“ (5) Vermutlich darf man die Nestorianer als direkte Nachfolger der Urchristen verstehen, die den Bezug auf Aristoteles eher aus Gründen der Rechtfertigung herstellten. Sie werden auch nicht als Häretiker verstanden, obwohl sie in der Doppelgestalt des Gottessohnes die Existenz eines lebenden kosmischen Christus ebenso bejahten wie die geistige Doppelexistenz des Menschen, dessen tätiger, nicht- korrumpierter kosmischer Teil nie restlos in der physischen Existenz aufgeht.

Im 6. Jahrhundert kam ein weiterer Einfluss nach der Schließung der Athener Philosophen- Akademie durch Justinian (6) hinzu: Eine Gruppe von sieben bedeutenden Philosophen, deren - durchaus klassisch - griechisch- polytheistischen Lehren nicht mehr in die eingeebnete christlich- römische Staatskirche und den kodifizierten Rechtsstaat passten, gingen von Athen nach Gondischapur ins Exil, wo sie bis 533 blieben: "Vielleicht schon 531, spätestens 532 zogen sieben der letzten Athener Neuplatoniker – darunter Damaskios, der letzte Scholarch, und sein Schüler Simplikios – an den Hof des Perserkönigs Chosrau I., wo sie mit Toleranz rechnen konnten.Doch schon vor Ende 532 kehrten sie ins Oströmische Reich zurück, nachdem Chosrau im Friedensvertrag mit Justinian eine Garantie für ihre Sicherheit ausgehandelt hatte." (Wikipedia) Sie lehrten über die Physiologie des Auges, das Verhältnis von Leib und Seele im Schlaf und im Wachen, über Klima, Jahreslauf, die Kugelform der Erde, die Natur der Winde und den Einfluss des Mondes auf das Meer, und selbstverständlich - als die Neoplatoniker, als die sie bezeichnet wurden, über Platon und die griechische Philosophie und Wissenschaft insgesamt.

Es ist faszinierend, zu lesen, dass eine der Grundfragen des Perserkönigs an die Gelehrten war: „Zum Ersten: Welches ist die Natur der Seele, und ob sie in allen Körpern eine und dieselbe ist oder ob sie differiert (von anderen)?“ Ob der Geist des Menschen geschöpft sei aus einem kosmischen Logos und sich darin nach dem Tod auch wieder auflöse, war also ein zentrales Thema dieser akademischen Erörterungen- ein Thema, das noch fast tausend Jahre später zur hitzigen Debatte eines Thomas von Aquin („de unitate intellectus“) gegen die Anhänger des Averroes gehören sollte- ein späterer Bruchpunkt zwischen Dominikanern und dem Islam. Tatsächlich ist auch die Auffassung der Nestorianer vom unberührbaren individuellen Geist des Menschen an diesem Bruchpunkt angesiedelt. Letztlich entwickelte sich die Akademie in die Richtung einer rein physischen Existenz des Menschen, dessen Geist sich nach dem Tod auflöst- und legte damit sehr früh die Grundlagen für die heute so verstandene wissenschaftliche Weltsicht. Angelegt war die Intention der Akademie - so wie sie Rudolf Steiner versteht - anders; er sah in Gondischapur die Chance einer konstruktiven Verschmelzung von altem Mysterienwissen (wie in den Feuerkulten), mit dem früh- christlichen Impuls (wie er sich in den Nestorianern auslebte): „Die Akademie von Gondishapur war vor allen Dingen damit beschäftigt, die alte orientalische, schon in Dekadenz gekommene geistige Kultur mit dem Aristotelismus zu durchdringen, sie in einer ganz neuen Form zu gestalten. Der Aristotelismus ist da erst wiederum in seiner eigenen Gestalt erstanden. Die Christen hatten ihn ja nicht fortgepflanzt.“ (7)

Rudolf Steiner versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts, diese tausendjährige Debatte, die in Gondischapur entsprang, wieder aufzugreifen und bezog dabei eher den Standpunkt der Neoplatoniker und Nestorianer: „So dass wir also sagen können: Gewissermaßen entfaltet sich aus der Ideenwelt heraus, die Ideenwelt erlebend, die Seele, die Psyche. Und die Seele, sie schafft sich, ebenso wie die Ideenwelt die Psyche, die Seele schafft, so schafft sich die Seele ihrerseits erst die Materie, in der sie verkörpert ist. So dass also dasjenige, was da drunten ist und woraus die Psyche ihren Leib schafft, im wesentlichen ein Geschöpf dieser Psyche ist. Da aber ist erst der Ursprung der Individuation, da erst gliedert sich die Psyche, die sonst teilnimmt an der einheitlichen Ideenwelt, da gliedert sie sich in den Leib A, in den Leib B usw. ein, und dadurch entstehen erst die Einzelseelen. Die einzelnen Seelen entstehen dadurch, dass gewissermaßen die Psyche eingegliedert wird in die einzelnen materiellen Leiber.“ (8)

Nimmt man den lebhaften personellen und ideellen Austausch mit Indien hinzu, so zeigt sich in Gondischapur, der Geburtsstätte der modernen Medizin, Wissenschaft und Anthropologie, eine wirklich kosmopolitische Stätte, ein Zusammenfließen der griechischen Philosophie mit dem Früh- Christentum, den Manichäern, der sassanidischen National- und Staatskirche mit ihren überragenden, toleranten Königen und Kriegsherren, dem Zurvanismus mit seinen Ursprüngen in Zarathustra, den Aristotelikern aus Antiochien, den Neo- Platonikern aus Athen und den Nestorianern - eine Vielfalt in einem Thinktank bis zum 7. Jahrhundert, als eine Einebnung durch die Expansion des Mohammedismus einsetzte. Nach Chosrau II (628), der wohl Philosophie und luxuriöses Leben dem permanenten Krieg gegen römische, islamische, aber auch innere Fronten vorzog, wechselten die sassanidischen Könige rasch. 636 kam es zur großen Schlacht mit dem islamischen Heer bei Hira. Die sassanidische Führungselite floh nach China.

Zwar bestand die Akademie weiter, aber auch die zoroastrische Staatsreligion veränderte sich entscheidend. Der Einfluss auf die Forschung und Lehre in Gondischapur, das bisherige aristotelische Verständnis von Logik ausschließlich auf sinnliche Phänomene zu reduzieren, ging nicht auf islamische Einflüsse, sondern auf die „zoroastrische Seite“ zurück: „Von der zoroastrischen Seite sei ein Angriff innerhalb der Akademie vorgetragen worden“ (9) - so Rudolf Steiner (10), womit der bisherige Multi- Kulturalismus beseitigt, eine innere ideologische Säuberung innerhalb des religiösen Systems vorgenommen, aber auch die gesamte „christlich- aristotelische Anthropologie“ gezielt in eine exotische „Nebenentwicklung“ (10) abgedrängt wurde. Der Zoroastrismus, der sich bereits zuvor der Manichäer entledigt hatte, trug nun, von innen her vom immer dominierenderen Christentum, von außen von den islamischen Heeren bedrängt, der sassanidischen Toleranz beraubt, die meisten Feuerkulte und alle Spielarten des Zurvanismus zu Grabe: Ein Dogmatismus mit glatten religiösen Kanten sollte die Führungselite in ihren Positionen halten, in der Neuausrichtung kompatibel und im Menschenbild reduziert, ohne Anstoss zu erregen, aber förderlich für die korrupte Elite: Das waren die neuen Rahmenbedingungen für die Akademie, die von nun an auch Aristoteles reduktionistisch interpretierte: Ein mechanistisches Welt- und Menschenbild entstand, wurde gelehrt und praktiziert, das sich allerdings - medizinisch- als äußerst effektiv erwies.

Von der Perspektive her gesehen: Wie fruchtbar hätte eine im Iran gelegene Forschungs- und Begegnungsstätte zwischen Islam und Ur -Christentum, zwischen Indien und dem Kloster von Monte Cassino, zwischen Aristotelikern und Anhängern alter Kulte werden können? Rudolf Steiner wird nicht müde zu betonen, dass die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit eine andere hätten werden können, hätte nicht jenes Zerbrechen und die Umdrehung des spirituellen Impulses der Akademie von Gondischapur der menschlichen Entwicklung „einen innerlichen Knacks bis in die Leiblichkeit hinein“ (11) gegeben. Es hätte allerdings, wäre die Korruption des ursprünglichen Impulses nicht durch die anstürmenden islamischen Truppen verwässert worden, sehr viel schlimmer kommen können: „Der Mohammedanismus war dazu bestimmt, die gnostische Weisheit von Gondishapur abzustumpfen, ihr die eigentliche, stark ahrimanisch versucherische Kraft, die sie auf die Menschheit sonst ausgeübt hätte, zu nehmen.“ (12) Die intrigante Umleitung des Impulses innerhalb der zoroastrischen Elite - insbesondere durch einen bedeutenden Meister (13), die die allmähliche individuelle Entwicklung der Intelligenz überspringen wollte durch einen „mit höchster logischer Intelligenz“ ausgestatteten „Kollektivgeist“ (14) oder einem kollektiv- „logizistischen Automatismus im Gedankenbilder- Haben“ (15), gelenkt durch eine elitäre Gruppe, wurde gestoppt - auch durch das innere Drängen der Christen, „gegen Ende der Sassaniden- Zeit (..) sassanidische Staatsreligion zu werden“ (16). Dieser Machtkampf, ja Umsturz hat sich in der Mitte des 7. Jahrhunderts - nach Rudolf Steiner eben "666"- abgespielt. Von nun an war der „Aristoteles mysticus“ als gemeinsame Verständnisgrundlage verschwunden und wurde durch eine rein rationalistische Neuinterpretation ersetzt. Berühmte Generationen von Ärzten und Astronomen wanderten aus an die Höfe der Kalifen von Bagdad. Ihr Wissen verbreitete sich und wurde allmählich über die Klöster des Westens zum geistigen Gemeingut.

Vielleicht lässt sich aus der ähnlichen Konstellation die Verbindung nachvollziehen, die Rudolf Steiner zwischen Gondischapur Mitte des 7. Jahrhunderts und dem Massenmord an den Templern im 14. Jahrhundert gesehen hat. In beiden Fällen ist ein spiritueller, internationaler und Grenzen überwindender Impuls im Kern getroffen, beraubt und geistig umgedreht worden- im Fall Philipp des Schönen zur Konstituierung des Nationalismus, aber mit Mitteln wie Desinformation, Verfolgung, Folter und Diebstahl in nie gekanntem Ausmaß. Im Fall des unbekannten Lehrers aus Gondischapur war der Zweck eine globale Bewusstseins - Blendung durch eine passiv wie eine Offenbarung aufgenommene Logizistik: „Und die Absicht bestand, die ganze damals bekannte zivilisierte Welt mit dieser Gelehrsamkeit zu überschwemmen.“ (17)

Den dritten derartigen, damit korrespondierende Impuls verortete Rudolf Steiner um die letzte Jahrtausendwende. Man muss sich fragen, ob der Optimismus eines Heinz Herbert Schöffler, der Ende der 70er Jahre schrieb, heute noch Bestand hat: „Das Problem der Selbsttätigkeit von Logik, der allvorgeformten Begriffsmatrix, in die es allzu leicht gelingt, die eigene Begriffsfähigkeit willenlos einzugliedern, das Maschinenhafte von Begriffsverknüpfungen, das man keinesfalls eigenintentionales Denken nennen könnte,- all dieses wird vermieden in der sorgfältigen von Generation zu Generation erfolgenden Ausbildung des Ichs.“ (18) Man fragt sich, ob das über Generationen ausgebildete selbsttätige Denken denn noch Bestand hat angesichts der Blendung von zwei Milliarden aktiven Facebook- Nutzern, kursierender nationalistischer, irrationaler, verschwörungstheoretischer „Begriffsmatrix“-befeuert durch technische Twitter- Bots und Fake- News- Schleudern, die nicht nur nationalistischen Interessen, sondern einer international aufgestellten neuen Elite von Superreichen dient, die heute -von Russland bis Amerika- direkt die Macht ergriffen hat und tatsächlich von großen Teilen der jeweiligen Bevölkerung nicht nur gestützt und gewählt, sondern auch vergöttert wird. Die mühsam aufgebauten demokratischen Strukturen werden durch neue Diktatoren, gelenkte mediale Bestrahlung und die sich aufschaukelnde Neigung zu hysterischen Ideologien in den Grundfesten erschüttert- jenseits aller Logik, global und vor aller Augen. Ein Meister der Lüge wie Vladimir Putin kann einen Massenmord vor laufenden Kameras inszenieren und ihn gleichzeitig leugnen lassen- es ist ihm Applaus von Millionen gewiss, wenn nur die Meinungsmacher- Bots ihre Arbeit in den sozialen Netzwerken verrichten. Das „Maschinenhafte von Begriffsverknüpfungen“ (18) wird virtuell in die jeweils gewünschte Richtung gelenkt; die Blendung des „eigenintentionalen Denkens“ (18) im globalen Maßstab vollzogen- auch im Namen von Religionen: Eine generelle Korruption jedweder Logik und Moral. Die Meinungsmacher gestalten die globale Bewusstseins- Blendung durch eine an die Technik delegierte Logizität, eine anti- individuelle geistige Enteignung durch eine neue globalisierte Elite: Gondischapur blüht und gedeiht in den neuen Gewändern des 21. Jahrhunderts.

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*Eine offenbar fehlerhafte Lokalisierung im Buch von Schöffler (1). Die korrekte Lage von Takht-i Sulayman hier
1 Heinz Herbert Schöffler, Die Akademie von Gondischapur, Aristoteles auf dem Wege in den Orient, Stuttgart 1982/2, S. 91
2 Rudolf Steiner: „Zarathustra hat seine Schüler folgendes gelehrt: Wenn ihr hinaufschaut zur Sonne, so nehmt ihr die wohltätige Wärme wahr und das wohltätige Licht, das der Erde zustrahlt; wenn ihr aber höhere Organe entwickelt, wenn ihr geistiges Wahrnehmen entwickelt, so könnt ihr das Sonnenwesen wahrnehmen, das hinter dem physischen Sonnenleben ist; und dann nehmt ihr wahr Klangeswirkungen und in den Klangeswirkungen Lebenssinn. Was so als Geistiges hinter den physischen Sonnenwirkungen als Nächstes wahrzunehmen war, das bezeichnete Zarathustra für seine Schüler als Ormuzd, als Ahura Mazdao, als die große Aura der Sonne.“ GA 123, S. 67
3 Schöffler, S. 46
4 Elisabeth Leu- Schmidt, Ein Gralsimpuls im Osten, Dornach 1980, S. 10
5 Schöffler, S. 55
6 Rudolf Steiner: „Und so war denn auch der Kaiser Justinian ein Handlanger gewisser Wesenheiten, als er, der ja ein Feind war alles dessen, was aus der hohen Weisheit des Griechentums überkommen war, 529 die Philosophenschule in Athen schloß, so daß die letzten Reste der griechischen Gelehrsamkeit mit dem hohen aristotelisch-platonischen Wissen verbannt wurden und nach Persien hinüber flüchteten. Nach Nisibis waren schon früher, als Zeno Isauricus im 5. Jahrhundert ebensolche griechische Weise von Edessa vertrieben hatte, die syrischen Weisen geflohen. Und so versammelte sich gegen das Jahr 666 in der persischen Akademie von Gondishapur wirklich dasjenige, was auserlesene Gelehrsamkeit war, die herübergekommen war aus dem alten Griechentum und die keine Rücksicht genommen hatte auf das Mysterium von Golgatha.“ GA 182, S. 169
7 Rudolf Steiner, GA 325, S. 58
8  Rudolf Steiner, Vortrag vom 22. 5. 1920
9 Schöffler, S. 85
10 Vorträge Rudolf Steiners vom 11. 10. 1918 - 16. 10. 1918 in GA 184 und GA 182
11 R.St. GA 182, S. 171ff
12 R.St GA 184, S. 282f
13 R. St. GA 184.283f: „Das ist nicht erreicht worden, was der große Lehrer, dessen Name unbekannt geblieben ist, der aber der größte Gegner des Christus Jesus war, was der den Schülern beigebracht hat, aber etwas anderes ist doch erreicht worden. Die gegenwärtige naturwissenschaftliche Denkweise hat sozusagen mit dem Christentum als solchem in Wirklichkeit nichts zu tun. Man kann Schritt für Schritt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfolgen, wie, zwar abgestumpft, die gnostische Gondishapur- Weisheit über Südeuropa und Afrika nach Spanien, nach Frankreich, nach England sich hinein verbreitet hat und dann über den Kontinent, gerade auch auf dem Umwege durch die Klöster; kann verfolgen, wie das Übersinnliche herausgetrieben und nur das Sinnliche zurückbehalten wird; und es entsteht das abendländische naturwissenschaftliche Denken. Besonders interessant ist es, den Roger Bacon nach dieser Richtung zu studieren.“
14 Schöffler, S 78
15 Schöffler, S. 123
16 Schöffler, S. 80
17 R. St. GA 184, S. 282
18 Schöffler, S. 128